Wir machen uns entbehrlich!

Wir machen uns entbehrlich!

Wir machen uns entbehrlich! 150 150 Rainer Vogt

Was freut uns spontan? Wenn etwas wie durch Zauberei geschieht! Erst neulich hatte ich es mit einem Autoschlüssel ohne Bart zu tun. Das Wunderding schloss das Auto auf, wenn man dem Fahrzeug nur nahe kam. Und saß man drinnen, ging der Motor an, einfach so. Der Schlüssel blieb in der Ablage. Das nenne ich Fortschritt.

Auch sonst geschehen Wunder! Als Scholz im August 2020 auf Vorschlag von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans seine Kandidatur fürs Amt des Bundeskanzlers erklärte, rechnete kein Mensch ernsthaft mit seinem Erfolg. Noch wenige Wochen vor der Bundestagswahl im September erregte die Sozialdemokratie mit dürftigen Zustimmungswerten eher Mitleid. Der Trend zur Splitterpartei schien unumkehrbar. Was den Schwenk letztlich bewirkt hat, bleibt rätselhaft.

Vermutlich hat der Dauerzwist zwischen Söder und Laschet eine Rolle gespielt. Die Diskrepanz zwischen der Popularität des Bayern und den Zweifeln an Laschet mag CDU-Wähler frustriert haben. Dabei sind günstige Umfragewerte als Basis für die Legitimität eines Kandidaten für unser Grundgesetz überhaupt nicht bedeutsam. Nachdem allerdings der Mann aus Nordrhein-Westfalen dann zur falschen Zeit am falschen Ort lachte, war die Wahl gelaufen. Und die Karten für die stolze Volkspartei waren neu gemischt. Söder sei Dank!

Ja, die Flutkatastrophe im Ahrtal bot keinen Grund zum Lachen. Dafür liefert sie ein gutes Beispiel für die Überraschungen, die man vom Klimawandel erwarten darf. Trotzdem spielte das Thema eigentlich eine untergeordnete Rolle. Feuer und Waldbrände in Kalifornien, Kanada und in Sibirien, sintflutartige Regenfälle in Australien, in Asien, dann wieder beispiellose Dürren in Afrika, zahllose Hurrikane in Amerika, Erdbeben in Indonesien, auf Haiti und sonst noch irgendwo, auch Hitzewellen mit Temperaturen wie noch nie: So katastrophal  das alles war, es rückte gleichwohl in den Hintergrund, weil man das ganze Jahr hindurch mit Corona sowie dem Thema Impfen befasst war, zugleich allerdings froh, dass zur Jahresmitte die täglich durchgegebenen Inzidenzwerte Hoffnung schöpfen ließen.

Für Verwirrung stifteten bei uns in Deutschland zudem die „Querdenker“ unterschiedlichster Couleur, die dem Impfen und Corona überhaupt skeptisch, wenn nicht schroff ablehnend gegenüber standen und dahinter gar eine garstige Methode hinterhältiger Kräfte zu entdecken glaubten, um den Bürger seiner Freiheit zu berauben. Schließlich war die Periode vor und nach der Bundestagswahl sowieso nicht geeignet, der Pandemie energisch, konsequent und wirksam zu begegnen. Merkel begab sich auf ihre Abschiedstournee. Und die künftige Regierungsampel war bis in den Dezember hinein mit dem Koalieren beschäftigt.

Tatsächlich sind die Schranken, die uns die Viren tagtäglich aufnötigen, lästig und gewöhnungsbedürftig genug. Da können wir auf viel weitreichendere Verzichtleistungen, die mit der Klimakatastrophe auf uns zukommen, gern verzichten. Viel lieber blenden wir sie aus. Wir hätten uns „einer Kultur der Kurzfristigkeit hingegeben“, meint SPIEGEL-Autor Markus Feldenkirchen im Rückblick auf 2021. „Weil uns die nächsten zwei Wochen offenbar wichtiger sind als die nächsten zwei Jahrzehnte oder Jahrhunderte.“

Wenn es so wäre, entspräche es alter Gewohnheit und bewährtem, weil auf den eigenen Vorteil bedachten Empfinden. Was schert uns Zukunft! Nachdem sich der Glaube an ein jüngstes Gericht samt zu befürchtenden Strafen für den Sünder praktisch verloren hat, zählt allein der unmittelbare Vorteil. Dazu tritt die von Calvins Prädestinationslehre inspirierte amerikanische Überzeugung, wirtschaftlicher Erfolg dürfe als Zeichen göttlicher Gnade gelten. Wer es wie immer auch zu etwas, also zu Reichtum bringt, habe guten Grund zu glauben, er zähle zu den Auserwählten des Höchsten. Dass Jesus es hingegen für nahezu ausgeschlossen hielt, dass ein Reicher ins Himmelreich gelangt, wird verdrängt.

Gar nicht erst ins Auge gefasst werden etwaige Folgen des seit der Renaissance freigesetzten Erfindungsreichtums. Ein Musterbeispiel liefert das Auto. Zwei Drittel aller Deutschen (Kinder inbegriffen) haben eines. Doppelt so viele wie hier sind in den USA unterwegs, mehr als das Achtfache in China und 1,2 Milliarden weltweit. Zunehmend prekär – vorerst freilich noch günstig für Daimler & Co – entwickelt sich die Situation, seit man in China lieber im Stau steht und wir uns ans Fahrrad gewöhnen sollen. Ausgerechnet in Stuttgart!

Überraschend kommt die Klimakatastrophe ja nicht. Prognostiziert wird sie seit einem halben Jahrhundert. Der Club of Rome warnte damals vor dem anhaltenden Raubbau an natürlichen Ressourcen, vor „Wachstum“ und dessen Grenzen. Seit 1945 ist die Weltbevölkerung von 2,3 auf knapp acht Milliarden gewachsen. Zudem belasten Nutztiere, also Geflügel, Rinder, Schafe und Schweine den Globus zahlenmäßig um das Zehnfache. Von 82 Milliarden ist die Rede. Allein im tierlieben Deutschland kommen an die sechzehn Millionen Katzen und knapp elf Millionen Hunde dazu.

Tatsächlich lassen wir alles, was uns nützlich dünkt, tüchtig wachsen. Gleichzeitig schwinden Ressourcen, Bodenschätze, die für High Tech so wichtigen seltenen Erden. Überall auf der Welt wird das Grundwasser knapp. Manche Flüsse und große Seen wie der Aralsee trocknen aus. Saubere Luft wird genau wie unbelasteter Ackerboden zur Rarität. Der Regenwald weicht allmählich gewinnträchtigeren Nutzungen. Auf dem Rückzug befinden sich das Polar- und das Grönlandeis. Und selbst die Antarktis trennt sich von immer stattlicheren Eisbrocken. Eigentlich weiß man das ja alles.

Dass wir darum mit fatalen Folgen rechnen müssen, liegt auf der Hand und macht Angst. Die wird dann aber doch lieber verdrängt. „Kinder trotz Klimakrise: Geht das noch?“ titelte die Stuttgarter Zeitung am 30. Dezember. Das ist bislang noch ungewöhnlich. So leicht lassen sich Optimisten nicht ins Bockshorn jagen! Maria Furtwängler und Hubert Burda feierten Weihnachten vegetarisch. Man meidet Fleisch, Fisch sowie auch Milch und Eier, sofern man konsequent vegan isst. Kurios daran ist, dass die Gerichte sich optisch nicht selten an fleischlichen Speisen orientieren und dabei täuschend echt aussehen können. Sogar Corona hat etwas Gutes. Allein unsere Skrupel reichten ja wohl nicht aus, um uns das Reisen, das Fliegen, unsere Freiheit zu vermiesen.  

Trotzdem hat ausgerechnet Corona gezeigt, dass man durchaus imstande ist, auf Gewohntes zu verzichten. Die Männer rasieren sich so gut wie gar nicht mehr und lassen Bärte (aller Art) wachsen. Bei den Frauen führt der Verzicht auf die Schere zu einer Haarpracht, die bald bis zur Hüfte reicht. Vorbei ist längst die den Franzosen abgeschaute Begrüßung mit Umarmung und Küsschen da und Küsschen dort. Distanz hat sich durchgesetzt. Dafür wird mit den Händen geredet wie noch nie! Das kommt fast einer Art Zweisprachigkeit nahe, galt einst  aber als wenig schicklich für wohlerzogene Kreise. 

Dass mit uns emotional einiges in Bewegung geriet, das wird besonders an der Mimik deutlich, die sich eingebürgert hat. Zuerst sind es die Fußballer oder überhaupt Sportler gewesen, die einen erfolgreichen Schuss ins Tor oder sonst einen Sieg mit so weit wie möglich aufgerissenem Mund feierten. Inzwischen lässt sich diese früher eigentlich geächtete „Maulsperre“ fast überall beobachten. Es muss auch nicht nur Triumph sein, der Leute veranlasst, ihren Rachen sperrangelweit zu öffnen. Genauso gut können sich so Schrecken, Angst, Wut oder sonst extreme Emotionen offenbaren.

Am meisten Hoffnung wird natürlich auf unseren Erfindergeist, auf Kreativität gesetzt. In Japan ist man vom Nutzen intelligenter, ja gefühlvoller Pflegeroboter überzeugt. Daimler ist stolz auf die erteilte Erlaubnis, als erster Autohersteller ein teilautonomes Fahrzeug auf die Straße schicken zu dürfen. Stufe drei freilich nur und ausschließlich auf Autobahnen. Das heißt praktisch nur im Stau und höchstens bis sechzig Sachen fahren und den Vordermann nicht verlieren dürfen. Sonst geht nichts. Überhaupt darf der Fahrer nicht einnicken. Er muss kurzfristig wieder das Steuer übernehmen können. Am meisten staunen lässt, dass die meisten Erfindungen darauf hinauslaufen, uns arbeitslos und überflüssig zu machen. Derzeit zeigt das ZKM in Karlsruhe „BioMedien. Das Zeitalter der Medien mit lebensähnlichem Verhalten“. „Man staunt“, so sagt dazu Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung, „wie passioniert Künstler wie Forscher hochkomplexe Systeme ersinnen, die mit menschlichem Handeln in Konkurrenz treten“. So lautet auch der Titel des Artikels: „Den Menschen braucht’s nicht mehr“. Womöglich gar nicht so falsch: Sind Avatare und Roboter dem Klimawandel doch weit besser gewachsen als unsereins! Für den Strom, den sie brauchen, werden sie schon selber sorgen. Und atmen müssen sie sowieso nicht.

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