Meschugge? – Wie sich die Zeiten ändern

Meschugge? – Wie sich die Zeiten ändern

Meschugge? – Wie sich die Zeiten ändern 150 150 Rainer Vogt

Bekanntlich hat die Französische Revolution Europa auf den Kopf gestellt. Wo zuvor ein Monarch sowie Adel und Geistlichkeit das Sagen hatten, sollten plötzlich Menschenrechte und  eine Verfassung, womöglich Vernunft gelten. Wo bis dahin eine einzige Person, der König, den Staat verkörpert hatte, um – „absolutistisch“ – für Ruhe und Frieden zu sorgen bzw. Krieg tunlichst außerhalb der Grenzen mit der Nachbarschaft zu führen, war auf einmal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Rede. Sogar der Kalender wurde in Frage, das heißt auf das Dezimalsystem umgestellt. Weil so aber nur alle zehn Tage Sonntag gewesen wäre, das Revolutionsjahr sich nur mit Mühe an astronomische Gegebenheiten anpassen ließ und obendrein sämtliche Uhren unbrauchbar geworden wären, setzte sich so viel Vernunft dann doch nicht durch.

Die eine oder andere revolutionäre Errungenschaft konnte sich aber behaupten. Die Anmut und der Leichtsinn des Rokoko nahmen ein Ende. Die Revolutionsarchitekten Boullées und Ledoux verzichteten bei ihren Entwürfen auf die geschwungenen Grundrisse und die verspielten Zierformen, die bis dahin Paläste schmückten. Vor allem fielen bei der feudalen Klasse unter dem Fallbeil nicht nur deren Köpfe, wie „Tugend und Terror“ es laut Robespierre nahelegten. Auch die gepuderten Perücken räumten das Feld. Auf den Rückzug begaben sich die voluminösen Reifröcke der feinen Hofdamen, die engen Kniehosen und Westen der adligen Herren, die fliegenden Rockschöße und nicht zuletzt die heitere, von Pastelltönen geprägte Farbigkeit.

Um Tugend bemüht verschmähte der bürgerliche dritte Stand Buntes und bevorzugte nüchternes Grau ohne Klimbim. Die Kleidung der unteren Schichten, der Sansculottes, die lange Hosen trugen, zu Fuß gingen, nicht in Palästen wohnten, keine Lakaien besaßen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienten, begann ihren Siegeszug. Längst treten so unterschiedliche Herren wie Xi Jinping, Donald Trump oder Heiko Maas in nahezu gleicher Garderobe an die Öffentlichkeit. Nur der arabische Kronprinz Mohammed bin Salman und der eine oder andere afrikanische Herrscher halten an ihrer überlieferten Kleiderordnung fest.

In die Höhe rutschten die bodenlangen Röcke der bürgerlichen Damen aber erst im 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg weckte nicht nur Zweifel an der Vernunft. Wie DADA machte er zudem mit mancherlei Konventionen kurzen Prozess. Nicht allein die Künste entdeckten den Charme von Tabubrüchen. Die verwegene Idee der Gleichstellung der Geschlechter machte die Runde. Adolf Hölzel, einer der Wegbereiter abstrakten Malens, tolerierte eine Frauenmalklasse. Bis Frauen in der Bundesrepublik ohne das Placet ihres Mannes einem Beruf nachgehen oder größere Anschaffungen tätigen durften, schrieb man allerdings das Jahr 1958.

„Wir haben abgetrieben!“ Mit diesem provokanten Stern-Titel revoltierten im Juni 1971 fast vierhundert prominente Frauen gegen das strafrechtlich bewehrte Verbot des Paragrafen 218. Befreiend gewirkt hatte auf Frauen, die bis dahin jederzeit Schwangerschaft zu fürchten hatten, natürlich die in den 60erJahren den Markt erobernde Antibabypille. Zwar warnte Papst Paul VI. im Juli 1968 in der Enzyklika Humanae Vitae wütend vor einer „allgemeinen Aufweichung der sittlichen Zucht“. Doch auch die selbst von Machogesinnung gesteuerten männlichen Protagonisten der 68er-Bewegung hielten die libertäre Entwicklung nicht auf. Nicht einmal Christdemokraten vermochten ihre engstirnige Haltung im ewigen Streit um  Abtreibung wie gewünscht durchzusetzen. Trotzdem machen sich Ärzte nach dem Paragrafen 219a mit einschlägiger Werbung heute noch strafbar!

Verblüfft beobachtet man jetzt, dass die Damen, die uns im Fernsehen Nachrichten, das Wetter oder das Programm mitteilen, wieder wie früher richtige Kleider tragen, wenigstens knielang und mit kreuzbravem Halsausschnitt. Vielleicht hat diese Renaissance damit zu tun, dass Sprecher, egal ob weiblich oder männlich, seit geraumer Zeit von Kopf bis Fuß auf dem Schirm zu sehen sind.

Unerwartet kommt dieser Wandel insofern, als im Zuge der Gleichstellung der Geschlechter eigentlich ein Rollentausch stattgefunden hat. Während Männer dem bürgerlichen Klischee der grauen Maus nach wie vor mindestens dann folgen, wenn sie in Business-Angelegenheiten unterwegs sind, fühlen sich Frauen aufgelegt oder dazu gedrängt, ihre „Reize“ ins beste Licht zu rücken. Zumindest jüngere Semester zwängen sich in dermaßen enge Hosen, dass man nicht weiß, wie sie sich daraus wieder befreien. Sie entblößen sich jedenfalls viel eher als Männer. Das Dekolleté ist – übrigens schon vor 1789 – sowieso kein Thema, das Männer kümmern müsste. Frauen schminken sich, pflegen ihr „Make-up“, färben ihre Lippen und tönen die Haare. Und wo Haarwuchs nicht opportun ist, wird rasiert.

Warum wir Männer uns Revierkämpfe längst schenken können, ist noch nicht genügend erforscht, doch eigentlich erfreulich, weil bequem. Weder muss unsereins ein imposantes Rad schlagen wie ein Pfau noch kunstvoll wie ein Vogel tirilieren noch gar mit einem Geweih oder lautem Gebrüll Eindruck schinden. Auch dass Frauen – und nicht wir Männer – der Erwartung fast klaglos nachkommen, ihr attraktives Äußeres möglichst wirksam zur Schau zu stellen, obwohl sie kaum Vorteile daraus ziehen, harrt noch der Klärung. Fairerweise kommen ihnen jüngere Männer inzwischen in vielfacher Weise entgegen. Furcht davor, ihre Haut mit Tattoos zu ruinieren, kennen beide Geschlechter kaum mehr. Jugendliche Männer scheuen auch nicht davor zurück, für einen modischen Schnitt beim Friseur ordentlich Geld zu berappen. Sogar vor bunten Farben schreckt man(n) nicht mehr zurück.

Tatsächlich verschwimmen die Unterschiede zwischen Männern und Frauen mehr und mehr. Seit Dezember 2018 kennt man in Deutschland offiziell dreierlei Geschlechter. Abgekürzt heißt das m/w/d, wobei d für divers steht und auch durchaus vielerlei meint. Schon 1995 befand die Weltfrauenkonferenz in Peking, dass die Kategorie des Geschlechts überflüssig sei und letztlich für Frauen nur Nachteile bringe. Am besten solle man die Kategorie des Geschlechts ganz vernachlässigen und aus den Ausweispapieren tilgen. So sorgt „Gender-Mainstreaming“ für ein allgemeines Menschsein, das die überlieferten Unterschiede als menschengemachte und lediglich kulturell bedingte Ungerechtigkeiten entlarvt.

In sprachlicher Hinsicht ist nicht zu verkennen, dass „die Menschen“ längst unter sich sind. Alle andern wie beispielweise Leute, Bürger, Personen, Nachbarn, Individuen, Genossen, Kollegen, Angestellte, (Mit-)Arbeiter, (Dienst-)Boten, Einwohner, Landsleute und etliche mehr führen nur noch ein Nischendasein. Erst recht gilt das für Bezeichnungen, die als rassistisch und jedenfalls herabsetzend gelten wie Mohren, Neger, Rothäute, Gelbe, Braune, Farbige, Schlitzaugen und Zigeuner. So beliebt sie einmal war, so suspekt ist deshalb auch die Balkanplatte geworden.    

Vermutlich hat sogar der rasante Trend zur bloßen Nennung des Vornamens sowie auch das Duzen damit zu tun. Wer noch fernsieht, dem müsste aufgefallen sein, dass die Moderatoren und die Korrespondenten sich untereinander mit dem Vornamen ansprechen und du zueinander sagen. Das tun auch ganz viele Institutionen und Akteure, die im Netz unterwegs sind und dich persönlich ansprechen und deine Zustimmung erwarten. Ist harmlos, es geht um „cookies“, die verwendet werden. In dem Zusammenhang ist Datenweitergabe gemeint, die uns jedoch keineswegs schrecken muss. Wer hätte denn überhaupt etwas zu verheimlichen?! Unversehens ist es selbstverständlich, ja opportun geworden, alles und jedes zu „teilen“, es weiterzusagen,  mit Klicks und Kommentaren zu versehen. Leute zu verfluchen und erbarmungslos zu beschimpfen, hat selbstredend auch seinen Reiz.

Wir gleichen einander ja dermaßen, dass sich keiner mehr zu schämen braucht. 1962 verabschiedete Marshall McLuhan das „Gutenberg-Zeitalter“ und begrüßte die Menschheit im globalen Dorf, wo sich die weit überschätzte Individualität zugunsten kollektiver Identität erledigt. Schon 1950 konstatierte David Riesman Ähnliches, als er in seinem Bestseller „Die einsame Masse“ zwischen traditionell orientierten Gesellschaften, individualistisch geprägten und kollektiv-dynamischen unterschied. „Außengeleitet“ nannte er den an amerikanischen Zeitgenossen beobachteten Typus, der sich an seinesgleichen orientiert, sich Moden und Trends zur Richtschnur macht und sich beeilt, ja nicht als rückständig zu gelten. Anpassung ist alles und verspricht dem, der sich als Trendsetter durchsetzt, sogar die Illusion selbstbestimmter Eigenart.

Vielleicht erklärt sich so auch die unaufhaltsame Ausbreitung des Amerikanischen in aller Welt. Nicht allein die im „Netz“ üblich gewordenen einschlägigen Begriffe wie Homepage, Download, Link, Mailbox, Spam und viele andere stammen aus der vernetzten neuen Welt. In der Tagesschau heißt es schon geraume Zeit „am Ende des Tages“, wenn abends oder endlich gemeint ist. Genauso leuchtet auch „Habt eine gute Zeit“ ein, weil sowieso alles gehabt wird oder zu haben ist und weil wir uns daran gewöhnen, wenn etwas in Deutsch anstatt auf Deutsch gesagt wird.

So erfreuen sich die sozialen Medien natürlich ungeheurer Beliebtheit. Denn wann wäre es je leichter gewesen, sich frank und frei zu äußern, noch dazu anonym und ohne jede Furcht davor, sich zu blamieren und sich als Esel oder als gehässiger und niederträchtiger Unmensch zu entpuppen. Hurra, so sind wir halt!     

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