Womit beginnen, wenn Kriege uns näher kommen und Angst und Schrecken verbreiten? Doch so absurd das klingt: Bei uns hier gibt es dermaßen viel Verblüffendes zu beobachten, dass die bedrohliche Weltlage in den Hintergrund rückt. Allein schon das Zentrum, wo man zu Fuß unterwegs ist, mutet einzigartig an. Inzwischen gealterte hässliche Kunststoffwannen säumen den Weg und sorgen mit erstaunlich oft wechselnder Blumenbepflanzung für Atmosphäre. Konisch geformte weitere Kübel bieten bescheidenen Gehölzen Chancen. Zudem minimieren unzählige Steinwürfel möglichen Parkraum an der verkehrsberuhigten Straße. Daneben geben aufgereihte Metallbügel Fahrrädern Halt, auch sie in enger Nachbarschaft zu bepflanzten Inseln auf dem Trottoir. Reichlich verteilte Abfallbehälter fehlen auch nicht.
Phantastisch belebt wird das Bild aber von allerhand Leuten und, nicht zu vergessen, vielen in der Regel kleinen tragbaren Hunden. Größere Hunde leisten gelegentlich am Boden sitzenden Musikern Gesellschaft, die Spenden erwarten. Wirklichen Schrecken jagen aber vielerlei Gebrechen ein, mit denen etliche Passanten geschlagen sind. Kaum jemand geht noch aufrecht und gerade, was selbstverständlich mit dem fortgeschrittenen Alter vieler Leute zu tun hat. Sehr viele stützen sich auf Rollatoren. Fast nicht zu fassen ist aber, wie viele Behinderte auf Elektromobilen unterwegs sind und wie hoch der Anteil Jüngerer unter ihnen ist. Oft überholen sie Fußgänger und genießen ihr überlegenes Tempo.
Die körperlichen Mängel, die sich beobachten lassen, sind kaum alle aufzuzählen. Krumme Beine, mehr oder minder stark entwickelte Buckel, vor allem aber grausame Beispiele von Dickleibigkeit, wo die Oberschenkel sich nur mühsam aneinander vorbei schieben lassen. Kontraste liefern dazu oft größere junge Frauen, die ihren Bauch entblößen wie auch ihre nicht selten dünnen Beine. Lange bis zur Hüfte reichenden Mähnen bei ihnen und Bärte in allen Varianten bei Männern jeden Alters machen das Bild komplett. Nicht zu vergessen die unvermeidlichen Tattoos bei Leuten unter fünfzig. Erst recht nachdenklich machen aber auffallend viele Zwillinge in entsprechend breiten Kinderwagen. Viele schwangere Frauen und junge Mütter, die mitsamt kinderreicher Familie unterwegs sind, irritieren vollends.
Darf man überhaupt noch alles sagen? SPIEGEL-Autor René Pfister hat dazu ein Buch verfasst. „Ein falsches Wort“, so sein Titel, genügt, um besonders in den USA geächtet zu werden oder gar seinen Job zu riskieren. Vielerorts würden Meinungen, die das herrschende Weltbild verletzen, höchst aggressiv unterdrückt. Cancel Culture bezeichnet die intoleranten Bestrebungen, die nicht einmal vor Klassikern Halt machen. Dass Mark Twain vom „Nigger Jim“ schrieb, der zusammen mit Huckleberry Finn abenteuerlich unterwegs war, ist das ein Fall für Zensur? Sollen die Schriften Martin Luthers, seine Bibelübersetzung etwa, nicht mehr gelten, weil Luther erklärter Antisemit gewesen ist? Selbst Kant werden da und dort Vorurteile gegenüber Nichteuropäern zugeschrieben. Joanne K. Rowling, die Harry Potter erfand, erntete einen Sturm der Entrüstung, als sie die Umschreibung zu „Menschen, die menstruieren“ lächerlich fand. Für Aufregung sorgte erst neulich eine Äußerung von UN-Generalsekretär Guterres zum Nahost-Krieg, die er so nicht gemeint hat. Gleiches gilt für Einlassungen Boris Palmers zum „Judenstern“ und dem „N-Wort“. Auch Selenskyi verletzte ein Tabu, als er sich „Präventivschläge der Nato“ vorstellte.
Doch sind das nicht in Anbetracht dessen, was sonst noch los ist, Bagatellen? Immerhin herrscht Krieg!! Wozu sich über Nebensächliches aufregen? Erinnert sich etwa noch jemand daran, dass man einst Kindern verbot, mit den Händen zu reden? Jetzt wirken Zeitgenossen, die das unterlassen, gehemmt. Zudem fällt auf, wie viele Menschen unter uns offenbar adelig sind. Immerhin heißen sie „von“ Sowieso. Woher kommen die alle? Adel gilt doch seit der Weimarer Reichsverfassung 1919 als abgeschafft. Oder was ist davon zu halten, dass Schweden wieder zur Fibel zurückkehrt? Und lesen, rechnen und schreiben zu können für unverzichtbare Fähigkeiten hält? Und weshalb duzt sich jetzt alle Welt, obwohl Vornamen allein kaum Aussagekraft haben? Da bedeuten Zugezogene mit schwierigeren, aber bisher unbekannten neuen Namen echten Gewinn.
Doch zurück zum Krieg. Entpuppt sich die Entspannungspolitik Egon Bahrs und Willy Brandts jetzt als schiere Illusion? Gehorchte etwa, was Egon Bahr, Willy Brandt und Gorbatschow politisch verfolgt haben, einfachem Wunschdenken? Tatsächlich erweist sich Krieg erneut als unvermeidliche Erfahrung mit dem Zeug dazu, sich auszubreiten. Von Heraklit bekanntlich als „Vater aller Dinge und der König aller“ gekennzeichnet, der die einen zu Göttern, die andern zu Menschen mache, scheint Krieg offenbar unvermeidlich. Auch Sklaven einerseits sowie Freie andererseits gehen auf sein Konto.
Inzwischen findet näher als uns lieb ist nicht nur Putins „militärische Sonderoperation“ – die wir „Angriffskrieg“ nennen – in der Ukraine statt, sondern noch ein zweiter Krieg, den die Hamas mit ihrem unerwarteten Überfall auf Israel vom Zaun gebrochen hat. Wer hätte gedacht, dass der israelische Geheimdienst sich dermaßen überraschen lässt? Gemeinsam ist diesen Kriegen ihre Radikalität. Hamas plant die komplette Auslöschung des „Feindes“. Putin will die ukrainische Bevölkerung russifizieren. Weder die Ukraine noch Israel sollen wie bisher bestehen bleiben.
Gemeinsam ist beiden Kriegen auch, dass sich beide angegriffenen Völker energisch wehren. Die Ukraine überraschte von Anfang an mit ihrem Widerstand, den anfangs nur zögernd geleistete westliche Hilfe mit Waffen allerdings bremste. Die Furcht vor etwaiger atomarer russischer Reaktion verlor sich nur langsam und bewirkt bis heute schrittweise gewährte Zugeständnisse an weiter reichender Bewaffnung. Nach wie vor gelten Ziele in Russland als Tabu. Dasselbe gilt für die unmittelbare Beteiligung des Westens an Kriegshandlungen. Gemeinsam ist diesen Kriegen zudem, dass sich ihr Ende nur schwer absehen lässt. Putin wird nachgesagt, er hoffe auf einen künftigen Regierungswechsel in den USA. Danach, im schlimmsten Fall nach dem Wiederaufstieg Trumps, stünde die amerikanische Unterstützung auf tönernen Füßen.
Schon jetzt werden Stimmen lauter, wir dürften uns in Europa künftig nicht mehr wie gewohnt auf amerikanische Waffenhilfe verlassen. Dass sich entsprechende Erwartungen von Tag zu Tag deutlicher an das bisher so zurückhaltende Deutschland richten, ist mit Händen zu greifen. Auch dass wir nachdrücklicher denn je zur Erhöhung des Wehretats genötigt werden, ist kaum falsch zu verstehen. Die sicherlich nicht unvorteilhafte Büßerrolle der einst mit Recht als aggressiv gefürchteten Deutschen wird uns offenbar weder noch gegönnt noch künftig geduldet. Dem 1900 erteilten Befehl von Admiral Seymour beim Boxeraufstand in China – „Germans to the front“ – haftet so etwas Zeitloses an.
Einfach liegen die Dinge auch in Israel und dem Gazastreifen nicht. Zu beklagen sind nicht allein die mehreren Hundert massakrierten Opfer des Hamas-Angriffs unter den ahnungslos Feiernden auf dem grenznahen Festgelände. Hinzu kamen verschleppte Geiseln in dreistelliger Zahl. Und schon am 9. Oktober, also nur zwei Tage nach dem Überfall, wurden mehr als 1100 Tote gemeldet, Tausende Verletzte und zahllose Vertriebene, die ihre Häuser und Wohnungen verlassen mussten, um am Leben zu bleiben. Überhaupt fällt es schwer sich vorzustellen, dass in diesem unglaublich dicht besiedelten Gebiet, das nicht einmal die Größe des Bundeslands Bremen erreicht, über zwei Millionen Einwohner leben. In Gaza-Stadt wird nahezu sechshunderttausend Bewohnern nahegelegt, ihr Zuhause hinter sich zu lassen, nachdem israelische Streitkräfte die Stadt umzingelt haben.
Inzwischen schält sich heraus, wie komplex und schwierig die Situation in diesem problematischen Raum tatsächlich ist. Zu fürchten ist, dass die unübersichtlichen Fronten zwischen möglichen Kontrahenten auch jenseits von Hamas, Hisbollah und Israel sich allzu leicht zuspitzen und eskalieren könnten. Dass dann ein Krieg im gesamten Nahen Osten ausbräche. „Noch bleibt dieses Spiel mit dem Feuer innerhalb der zynischen Spielregeln.“ So der aktuelle SPIEGEL dazu. „Wie es weitergehen wird, hängt in erster Linie davon ab, was nun in Gaza geschieht. Wie massiv die israelische Armee weiter vorgeht – und wie die Menschen in der arabischen Welt darauf reagieren werden.“
Immerhin werden „2,3 Millionen Menschen in Gaza (..) doppelt bedroht: von der Hamas und obendrein von Israels Militärschlägen.“ Auch Flucht bleibt der Bevölkerung in dem schmalen Küstenstreifen verwehrt, weil ringsum niemand bereit ist, sie aufzunehmen. Und leider sind Versuche, den Eingesperrten mit Wasser, Nahrung und medizinischer Versorgung Hilfe zu leisten, bisher völlig unzureichend. Abgesehen von der Not zahlloser unschuldiger Opfer sowohl in der Ukraine als auch in Israel und dem Gazastreifen, nährt der vom Zaun gebrochene Konflikt wohlbekannte Feindschaften. Erneut flammt nicht nur im Nahen Osten, sondern besonders auch in Deutschland Antisemitismus auf, jetzt nicht nur als wieder lebendig gewordenes deutsches Erbe, sondern als importiertes Potential zugewanderter, vom Islam geprägter Neubürger. Also fühlen sich Juden ausgerechnet bei uns in Deutschland wieder gefährdet, wagen sich nicht aus dem Haus und geben sich sicherheitshalber als Juden nicht zu erkennen.
Dabei hätten wir bestimmt andere Sorgen. Droht uns denn nicht ein Klimakollaps?!
Und hatte nicht Gotthold Ephraim Lessing mit „Nathan dem Weisen“ 1779 einen passablen Vorschlag zur Schlichtung zwischen Juden, Christen und Moslems gemacht?!